Roger Berhalter (Text), Sara Spirig (Bilder)
Textilwerk Winterthur
Nähen und stricken kann man auch zuhause – aber nicht so wie im Textilwerk Winterthur. Das lichtdurchflutete Atelier im Sulzerareal bietet viel Platz für eigene Textilprojekte. Und die Nähmaschinen vor Ort können Weihnachten retten.
«Bin ich hier richtig?», fragt der junge Mann, als er das Textilwerk betritt. «Ich habe euch im Internet gefunden. Ich hätte da ein Projekt», sagt der 25-Jährige und deutet auf seine Tasche voller Stoffreste. «Meine Chefin ist schwanger, und wir Mitarbeiter wollen für ihr Baby eine Decke nähen. Könnt ihr mir helfen?»
Ja, im Textilwerk Winterthur ist der junge Mann an diesem Abend goldrichtig. Denn jeden Donnerstag wird das Atelier im Sulzerareal zur offenen Werkstatt. Alle können vorbeischauen, an einem eigenen Textilprojekt arbeiten und bei Bedarf auf professionelle Unterstützung zurückgreifen. So sitzt auch der junge Mann, der seit der Oberstufe keine Nähmaschine mehr benutzt hat, bald an einem der Tische und sticht ein Zickzackmuster in seinen Stoff.
Genau so stellen sich Bernadette Räss, Hannah Widmer und Judith Waldmeier ihre offene Werkstatt vor. Die drei Frauen sind im Vorstand des rund 40köpfigen Vereins, der das Textilwerk betreibt, und sie kommen aus ganz unterschiedlichen Ecken.
Judith ist Textildesignerin und Spezialistin für Upcycling. Bernadette ist Schneiderin und Modedesignerin mit eigenem Atelier: «Ich liebe das textile Handwerk, und ich gebe mein Wissen gerne in Kursen weiter.» Hannah Widmer ist Soziologin und bezeichnet sich selbst als Freizeitnäherin. Über einen Kurs fand die Doktorandin zum Textilwerk und ist geblieben.
Ihr gefällt vor allem der gemeinschaftliche Gedanke: «Die Idee der offenen Werkstatt fand ich von Anfang an super. Hier kann man zusammen mit anderen nähen, und es ist schön zu sehen, wenn hier alle gemeinsam am Arbeiten sind.» Von diesem ehrenamtlichen und gemeinsamen Engagement lebe das Textilwerk. «Es wird sozusagen immer wieder neu erschaffen, von vielen engagierten Frauen, die sich punktuell oder regelmässig einbringen.»
Das Textilwerk mit seinem Loft-Charme lädt ja auch zum gemeinsamen Arbeiten ein. Eine Wand des Ateliers besteht aus unverputztem Backstein, der Boden ist aus Holz, in einer Ecke ragen farbige Stoffrollen aus Eimern, in Regalen stehen Säcke voller Reissverschlüsse, Stoffbänder und Wollreste, in Schubladen stapeln sich Scheren und Fadenspulen. Der lichtdurchflutete Raum ist eine Mischung aus Alt und Neu. Es gibt ihn erst seit 2017, als in der ehemaligen Fabrikhalle ein neuer Holzboden eingezogen und das Textilwerk gegründet wurde. Seither ist das Atelier Teil des «Machwerk Winterthur», eines Verbunds von Werkstätten für Holz, Keramik, Siebdruck, Malerei und Fotografie.
Neben der offenen Werkstatt am Donnerstag bietet das Textilwerk auch Atelierplätze zur Miete an. Am gefragtesten sind aber die Kurse und Workshops. In einigen wird Grundwissen im Nähen oder Stricken vermittelt, andere führen gezielt zu einem Ergebnis: Ein Jupe, ein Bienenwachstuch oder ein Lederportemonnaie. In den Workshops zum Thema Upcycling («Aus Alt mach Neu») erhalten gebrauchte Kleidungsstücke ein neues, zweites Leben. Bald wollen die Betreiberinnen hierfür ein Materialbuffet auftischen: Ein Sammelsurium verschiedenster Knöpfe, Spitzen, Garne und Beschläge. «Da kann man drin stöbern und sich bedienen, um auf neue Ideen zu kommen», sagt Judith Waldmeier.
Nähen und stricken kann man auch zuhause – aber nicht so wie im Textilwerk: Denn hier stehen nicht nur haushaltsübliche Nähmaschinen zur Verfügung, sondern auch eine Industriemaschine, die dicke Stoffe bewältigt – und einmal sogar Weihnachten rettete. Hannah erzählt von einer Frau, die am 23. Dezember mit einem «riesigen Sofahocker» vorbeischaute und einen neuen Überzug nähen wollte. Dank der Industrienähmaschine wurde dieses Weihnachtsgeschenk noch rechtzeitig fertig.
Weiter steht im Textilwerk eine Industriebügelmaschine bereit sowie eine Covermaschine, die zum Nähen von elastischen Abschlüssen in Tricotstoffen dient, und mit der sich beispielsweise T-Shirts kürzen lassen. Die Zuschneidetische sind so gross, dass man auf ihnen Pingpong spielen könnte, und bieten somit viel Platz für eigene Projekte.
Speziell sind auch die Strickmaschinen: «Ein Trend aus den 1970er und 80er Jahren, damals standen diese Modelle in vielen Haushalten», sagt Bernadette und führt vor, wie es geht. Über eine filigrane Drahtkonstruktion fädelt sie die Wolle ein, dann zieht sie den Schlitten der Maschine mit einem Ratschen ein paarmal hin und her – und präsentiert ein Stück perfekt Gestricktes.
Würde sie weitermachen, käme schliesslich ein ganzer Pulli aus der Maschine. «Mit etwas Übung kann man auf diese Weise schneller und regelmässiger Stricken. Aber man muss Freude daran haben», sagt Bernadette und lacht. «In Kursen kann man bei uns herausfinden, ob das etwas für einen wäre.»
Der junge Mann ist inzwischen vorangekommen mit seinem Projekt, der Kuschelecke für die Chefin. Auf einem Zuschneidetisch arrangiert er Stoffreste zu einem Bärengesicht, das er anschliessend vernäht. Strahlend sagt er: «Ich bin überrascht, dass es so gut kommt!»
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