Roger Berhalter (Text), Marcio Ferreira dos Santos (Bilder)

Crazy Alchemist St. Gallen
«Ich bekomme nicht genug von Lavendel»: Ein Besuch im Labor eines modernen Alchemisten

Die Alchemisten des Mittelalters faszinieren ihn. Deshalb ist Rade Kolbas tief in die Welt der Kräuter und Düfte eingetaucht und hat sich ein eigenes Labor eingerichtet. In seinen «Quacksalber-Kursen» lernt man nicht nur besser riechen, sondern auch sich selber besser kennen, und man kommt dem St. Galler Elon Musik auf die Spur. 

Es ist ein unscheinbarer Keller im St. Galler Linsebühlquartier. Doch betritt man ihn, ist man sogleich in einer anderen Welt. Hier hat Rade Kolbas, der «Crazy Alchemist St. Gallen», sein Labor eingerichtet. Es riecht dezent nach Kräutern, und es sieht aus wie in einer mittelalterlichen Apotheke.

Im Holzregal steht Fläschchen neben Fläschchen voller Duftstoffe: Katzenkralle, Abelmoschus, Macawurzel, Habichtskraut. Auf dem Tisch stehen Mörser aus Messing in allen Grössen, verschiedene Schalen und Schatullen, Duftsäckchen und Messlöffel.

An der Wand hängt ein historisches Portrait von Bartholomäus Schobinger, dem St. Galler Alchemisten aus dem 16. Jahrhundert. «Das war der St. Galler Elon Musk», sagt Rade Kolbas und schmunzelt. «Er hatte viel Geld und grosse Ideen. Hast du gewusst, dass er als Erfinder des Kunststoffs gilt?» Rade erzählt weiter, und schon ist man mittendrin in den mystischen Geschichten über die Alchemisten von früher.

Alchemisten, das waren die Chemiker, Pharmakologen und Mediziner des Mittelalters. Frühe Naturwissenschaftler, die in ihren Laboren mit verschiedenen Materialien experimentierten und an neuen Verfahren forschten. 

So mancher hoffte darauf, Gold und Silber künstlich herstellen zu können. Ein unmögliches Unterfangen, wie man heute weiss. Doch als Nebenprodukte dieser Tüftelei entstanden in den Alchemie-Labors so prägende Erfindungen wie die Keramik, das Schiesspulver, Parfüme oder eben Kunststoff.

Sandelholz und javanischer Gelbwurz

Rade Kolbas liebt diese mystisch aufgeladenen Geschichten. Deshalb ist er tief in die Welt der Düfte und Kräuter eingetaucht. Heute bietet er als Crazy Alchemist so genannte Quacksalber-Kurse an: Zunächst schnuppern die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an verschiedenen Duftstoffen und machen neue Sinneserfahrungen. (Wer weiss schon, wie weisses Sandelholz oder javanischer Gelbwurz riecht?) 

Anschliessend stellen die Teilnehmenden ihre eigene Kräutermischung zusammen und füllen sie in Teebeutel und Duftkissen ab.

In den «Quacksalber-Kursen von Rade Kolbas machen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer neue Sinneserfahrungen.

Die Rezeptur dieser Kräutermischung tippt der Crazy Alchemist dann auf seiner alten Schreibmaschine auf Papier, so dass man sie mit nach Hause nehmen kann, «notiert in Erinnerung daran, dass du jetzt auch ein Teil von dem Geheimnis geworden bist und deine eigene Alchemie weiter entdecken wirst», heisst es im Kursbeschrieb.

Das mag esoterisch klingen, aber Rade betont sogleich: «Nein, nein, ich bin ein Kind der Wissenschaft, durch und durch!» Der gebürtige Kroate kam als Jugendlicher nach Deutschland und später in die Schweiz. «Ich wollte immer Archäologie studieren.» Stattdessen sei er in die IT-Branche hineingerutscht, wo er noch heute arbeitet – wenn er nicht gerade neue Düfte verinnerlicht oder an Kräutermischungen tüftelt.

 

Beruflich hat er also mit Programmiercode und digitalen Algorithmen zu tun. Doch die Liebe zu den schönen analogen Dingen, zu alten Bräuchen und Geschichten hat ihn nie losgelassen. Dazu hätten auch seine naturverbundenen Grosseltern beigetragen. «Die ersten Vampirgeschichten habe ich von meiner Oma gehört», sagt Rade und lacht. 

 

Der 45-Jährige hat diese Erzählkunst offenbar geerbt. Jedenfalls weiss Rade unzählige Anekdoten und bringt die verschiedensten Themen zusammen.

Er erzählt vom niederländischen Philosophen Baruch de Spinoza, vom italienischen Maler Lorenzo Lotto, von einem verschollenen Kloster in seiner kroatischen Heimat, vom St. Galler Stadtvater Vadian, von Paracelsus und Britney Spears, von der aphrodisierenden Wirkung von Sellerie und von seinen Touren durch die Brockenhäuser der Region.

Was wie ein wilder Ritt durch die Geschichte wirkt, klingt dank Rades ruhiger Art ganz entspannt und natürlich. Man möchte ihm noch lange zuhören und seinen Geschichten lauschen – in seinen Quacksalber-Kursen hat man ausgiebig Gelegenheit dazu. 

 

Teebeutel, Duftkissen und ein individuelles Rezept.

Düfte erzählen Geschichten

Für den Crazy Alchemist sind Düfte mehr als nur Wohlgeruch. «Ein angenehmer Duft ist ein Designstück.» Und Düfte führen immer zu Geschichten. Zum Beispiel geröstete Granatapfelschalen: Als eine türkische Kursteilnehmerin an dieser Duftprobe roch, fühlte sie sich sofort in die Küche ihrer Mutter zurückversetzt und erinnerte sich plötzlich an Gerichte, die sie schon als Kind gegessen hatte. 

Düfte sind deshalb für Rade auch ein Mittel, um Menschen besser kennenzulernen, um hinter die Masken zu blicken und kulturelle Differenzen zu überwinden. Auch sich selber habe er durch sein alchemistisches Hobby besser kennengelernt: «Ich konnte meinen Horizont erweitern.» In seinen Kursen möchte er dies auch anderen ermöglichen.

Hat er eigentlich einen Lieblingsduft? Rade winkt ab. Aktuell bekomme er zwar nicht genug von Lavendel, aber: «Treu bin ich nur meiner Freundin. Den Düften aber kann ich nicht treu sein. Ich verliebe mich sehr schnell.»


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